Wesentlichen Einfluss auf die Qualität einer Leitlinie hat der federführende Leitlinienautor. Bei der Leitlinie Neuroborreliose ist dies Professor Dr. Rauer.
Professor Dr. S. Rauer
COI: Berater- und Gutachtertätigkeit: Zuwendungen von Novartis, Biogen, Merck-Serono, Bayer. Vortraghonorare von Bayer, Baxter, Biogen, Merck-Serono, Novarits, RG, Sanofi Aventis, Teva. Finanzielle Zuwendungen für Forschungsvorhaben: Drittmittel von Bayer, BMBF, Biogen, Hertie-Stiftung, Merck-Serono, Novartis, Teva. Mitgründer und Inhaber der Firma Ravo-Diagnostika GmbH, Freiburg, Immundiagnostika
Professor Dr. Rauer ist Leitender Oberarzt der Neurologischen Uniklinik Freiburg und Mitglied im erweiterten Vorstand der Gesellschaft für Liquordiagnostik und Klinische Neurochemie e.V. (DGLN). Nachdem er drei Jahre zum Thema Autoimmunologie im Labor arbeitete, wechselte er 1995 an die Universitätsklinik Freiburg. Im selben Jahr wurde Ravo-Diagnostika gegründet, ein Unternehmen, das Immunoassays für die Diagnose von Infektions- und Autoimmunerkrankungen entwickelt und produziert. Rauer ist nach eigenen Angaben Mitgründer und Inhaber.
Neben Professor Wilske profitiert damit auch Rauer von diagnostischen Testverfahren wie dem ELISA oder Immunoblot und er rät ebenso wie Professor Wilske vom LTT und anderen Tests ab. Gegen ein Patent für immunologisch aktive Proteine von Borrelia Burgdorferi der Firma Mikrogen (Wilske) erhob die Ravo Diagnostika GmbH gar erfolglos Einspruch.
Rauer kommt im umstrittenen Film von Patrick Hünerfeld als „international renommierter Experte“ zu Wort, der sich seit über 20 Jahren mit Borreliose im klinischen Alltag beschäftige. Doch auch die Uniklinik Freiburg geriet in die Kritik, wie der Spiegel berichtete. Die Schwester eines Borreliose-Patienten, selbst Ärztin, legte dicke Akten mit Missständen und Gutachten an, stieß auf Ungereimtheiten, fragwürdige Laborergebnisse und versuchte aufzuklären, weshalb niemand frühzeitig die Erkrankung erkannt und entsprechend behandelt hatte. Die Familie erhob schwere Vorwürfe gegen die Professoren der Uniklinik Freiburg, weil der Borreliose-Patient trotz vieler Hinweise nicht behandelt worden war und Laborbefunde versteckt und später manipuliert worden seien. Das Gericht folgte jedoch dem Sachverständigen, demgemäß das Handeln der Freiburger Ärzte „ärztlichem Standard“ entsprochen habe.
Das Spezialgebiet von Prof. Rauer ist allerdings nicht nur Borreliose, sondern vor allem Multiple Sklerose (MS). Eine Autoimmunerkrankung, die nur schwer von einer Neuroborreliose zu unterscheiden ist. Die Ursache einer MS ist unbekannt und eine Diagnose kann nur durch ein Ausschlussverfahren gestellt werden.
Professor Rauer ist Studienleiter der MS-Studien in Freiburg. Dort werden klinische und wissenschaftliche Studien durchgeführt, z.B. über neue und vielversprechende Präparate der Unternehmen Biogen, Novartis, Merck Serono oder Teva. Mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft zählen diese Firmen zu den häufigsten Sponsoren der Multiple-Sklerose-Forschung.
So war Rauer z.B. in Studien zu Natalizumab involviert. Natalizumab ist Bestandteil des Arzneimittels Tsyabri gegen Multiple Sklerose der Firma Biogen. Drei Monate nach Erstzulassung wurde es wegen schwerer Nebenwirkungen (PML) zunächst wieder vom Markt genommen, 2006 nach einer weiteren Prüfung wieder zugelassen. Dem Umsatz von Biogen Idec tat dies keinen Abbruch; dank Umsatzbringern wie Tsyabri schlug Biogen Idec 2012 gar die Gewinnerwartungen der Wall Street.
Ähnlich verhält es sich bei Fingolimod (Gilenya von Novartis). Nach mehreren Todesfällen werden Patienten nun verstärkt überwacht. Kritik gab es nach der Zulassung auch vom Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlaments an die Europäische Zulassungsbehörde (EMA). In Großbritannien sprach sich die Britische Behörde NICE gegen Fingolimod aus und bemängelte, dass nur Vergleichsdaten mit Placebo eingereicht wurden. Professor Rauer wollte lediglich „Nebenwirkungen, die sich folgenlos zurückbilden, wenn sie rechtzeitig erkannt werden“ (verglichen mit einem Placebo) erkannt haben.
Novartis setzt große Hoffnungen auf das Medikament. Laut einem US-Broker will man die Gilenya-Umsätze von 385 Mio. Dollar auf bis zu rund 1,4 Milliarden Dollar zum Jahr 2015 steigern. Mit Blogbustern wie Gilenya konnte Novartis die Verluste im Generikageschäft ausgleichen.
Nach Auskunft des Bundesministeriums für Gesundheit stiegen die Ausgaben für Medikamente im ersten Halbjahr 2012 um 3,1 %, wofür vor allem drei neue Arzneistoffe mit jährlichen Therapiekosten zwischen 30.000 und 45.000 Euro verantwortlich waren. Darunter auch Fingolimod.
Für Antibiotika sind die meisten Patente ausgelaufen. Wie das Beispiel Novartis zeigt, ist mit Generika kein nennenswerter Umsatz mehr zu erzielen.
Die DGN empfiehlt in ihren Leitlinien eine maximale Antibiotika-Therapie von 21 Tagen. Bei anhaltenden ‚unspezifischen’ Beschwerden sollen an erster Stelle Diagnosen wie depressive Störung oder Autoimmunerkrankungen in Betracht gezogen werden. Nicht nur mit Blogbustern bei Autoimmunerkrankungen wird ordentlich verdient, Psychopharmaka zählen zu den umsatzstärksten Medikamentengruppen überhaupt.
Industriekontakte sollen nicht mit einer Einflussnahme durch die Industrie gleichgestellt werden, wird von den Fachgesellschaften argumentiert. Aber trägt das allgegenwärtige Sponsoring zu einer unabhängigen Meinungsbildung bei? „Wenn wir ehrlich mit uns sind, wissen wir, dass es nichts umsonst gibt“ schrieb Professor Asmus Finzen 2007 im Fachblatt „Psychiatrische Praxis“.
Wer kontrolliert die Kontrolleure?
Interessenskonflikte werden überwiegend von den Autorinnen und Autoren selbst bewertet. Studien zeigen jedoch, dass die Selbsteinschätzung oftmals nicht den Einschätzungen Dritter entspricht. Das Institut of Medicine (IOM) hat 2009 empfohlen, Personen mit Interessenskonflikten aus Leitliniengruppen auszuschließen. In ähnlicher Weise empfiehlt die AWMF als „befangen“ eingestufte Experten von der Bewertung der Literatur und der Konsensfindung auszuschließen. Will man die Qualität und Glaubwürdigkeit von Leitlinien nicht aufs Spiel setzen, wird man nicht umhin kommen, diese Empfehlungen auch umzusetzen. Bis es soweit ist sollte jedoch jeder Nutzer kritisch prüfen, welche Interessen die jeweiligen Leitlinienautoren vertreten.